Tarja „The Shadow Self“ / VÖ 05.08.2016
Ob sich Tarja Turunen wohl einen ausgeklügelten Masterplan zurecht gelegt hat?
Nicht nur mit diesem ungewöhnlichen Ansatz, sich ein „Pre-Album“ wie „The
Brightest Void“ zu gönnen, sondern auch mit diesem bewusst die eigenen Fans aus
der Reserve zu locken. War ein gewisses Maß an Enttäuschung (zu viele
Coverversionen, irritierende stilistische Kapriolen) am Ende gar nur dafür
geplant, um die Erwartungen für „The Shadow Self“ ordentlich in den Keller zu
fahren und mit selbigem Longplayer dann so richtig aufzutrumpfen? Dieses
gerissene Biest!
Aber Spaß beiseite: Wenn man ehrlich ist, hätte man aus „The Brightest Void“
auch einfach eine Bonus-CD für den jetzt erscheinenden „richtigen“ Longplayer
machen können, damit wäre man vermutlich besser gefahren, zumal „No Bitter End“
und „Eagle Eye“ als Dubletten auf beiden Scheiben Verwendung finden. Blendet man
das Vorab-Album einmal aus und richtet die Aufmerksamkeit nur auf „The Shadow
Self“, dann wird schnell klar, dass das hier eine ganz andere Qualität und
Durchschlagskraft hat. Klanglich breit aufgestellt ist man selbstredend immer
noch, trotzdem ist ein ganz anderer Zug in diesen elf Songs, die zwar
überwiegend als „Grower“ eingestuft werden müssen - also ihre volle Stärke erst
nach mehrfachem Hören voll entfalten -, dafür aber auch schon früh ihr Potential
viel versprechend andeuten. Eine mal stärker, mal etwas gedämpftere Vorliebe für
Pomp und Breitbandsound ist bei einer Diva wie Tarja obligatorisch und steht
ihren stimmlichen Fähigkeiten natürlich wunderbar zu Gesicht. Entsprechend wird
nicht nur straight nach vorne gerockt („No Bitter End“), sondern auch mal die
Nähe zum Bombast-Musical gesucht („Diva“). Von dort ist es nur noch ein kurzer
Weg zu den Sphären der Filmmusik, in denen sich Tarja bei „The Living End“
bewegt. Nachdem der Anfang allein einer zurückhaltenden Akustikgitarre und der
atemberaubenden Stimme der Finnin gehört, kommen wenig später ein
schwelgerisches Piano, sanft marschierende Toms und folkloristisch anmutende
Pfeifer dazu, während wohl dosierte Chöre für Breite im Chorus sorgen. Dem
Gesang wird hier viel Raum zur Entfaltung gelassen und er steht klar im
Mittelpunkt. Für mich eines der Highlights des Albums und damit in einer Reihe
mit dem mächtig Fahrt aufnehmenden Bombast Rocker „Undertaker“ und dem
Chorus-Monster „Eagle Eye“ (übrigens ein Duett mit Tarjas Bruder Toni Turunen).
Nicht minder hörenswert ist der Auftakt-Doppelschlag von „The Shadow Self“:
Während die Protagonistin bei „Innocence“ erst einmal klar stellt wo der
Sopran-Hammer hängt, dabei aber auch das klassische Piano (gespielt von Izumi
Kawakatsu) für offene Münder sorgt und die zweite Hauptrolle einnimmt, folgt auf
dem Fuße ein deftiges Metal-Brett. Wer bisher gedacht hat, dass Grunts nicht auf
ein Soloalbum der einstigen Nightwish-Frontfrau passen, der hat die Rechnung
ohne Alissa White-Gluz (Arch Enemy) gemacht, denn die Kanadierin mit der
auffälligen blauen Mähne und dem noch imposanteren Organ, sorgt nicht nur für
derbe gutturale Abgründe, sondern lässt auch ihre mehr als beachtliche
Klarstimme erklingen und macht auf diesem Wege aus einem guten einen sehr guten
Song mit bratenden Gitarren und genug Gift, um einen willkommenen Kontrastpunkt
auf „The Shadow Self“ zu setzen. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass für jeden
Fan etwas dabei ist und es wirklich verdammt wenig an Tarjas viertem Album (bzw.
fünften, wenn man „The Brightest Void“ als solches zählt) auszusetzen gibt. Da
spielt es überhaupt keine Rolle, dass die Sängerin freimütig zugibt, dass die
eine oder andere Songidee schon ein paar Jahre alt ist und es ihr erst jetzt
gelungen ist, daraus ein vorzeigbares Stück Musik zu formen. Mitunter will gut
Ding eben Weile haben, weshalb die drei Jahre Wartezeit seit „Colours in the
Dark“ absolut in Ordnung gehen und man auch den rückblickend etwas unglücklichen
Vorboten in Windeseile vergisst. Das bisschen Kredit, das die Protagonistin
möglicherweise verspielt haben könnte, wird jedenfalls doppelt und dreifach
wieder rein geholt. Vielleicht war es also doch ein raffinierter Schachzug: Erst
entledigt man sich etwaiger Wackelkandidaten, nur um im Anschluss das vermutlich
ausgereifteste Werk zu präsentieren, das die eigene Solokarriere bis dato zu
bieten hatte. So und nicht anders wollen wir Tarja hören.
Markus Rutten -
www.sounds2move.de