Interview mit Oliver Nikolas Schmid von LACRIMAS PROFUNDERE


Veteran der deutschen Gothic Rock-Szene - Oliver Nikolas Schmid (2. v.r.)

So viel ist neu oder hat sich verändert seit „Antiadore“. So habt ihr nicht nur drei mehr oder weniger neue Bandmitglieder rekrutiert, sondern auch eure langjährige Labelheimat Napalm verlassen und euch Oblivion angeschlossen. Für „Hope is here“ habt ihr außerdem einen Teil der Produktion selbst in die Hand genommen. Sind Lacrimas Profundere 2016 so viel Do-It-Yourself Band wie schon lange nicht mehr?

Hahaha, ja, vor allem weil Do-it-Yourself die kostengünstigste Variante ist und wir einfach keinen wollten, der uns rein redet. Wir wussten sehr genau wie wir das machen wollten, und als das Thema "Produzent" auf den Tisch kam, war das auch schneller erledigt als ich eine Flasche Beck’s austrinke. Neue Bandmitglieder sind auch dabei, aber "nur" zwei und die auch bereits seit mehr als zwei Jahren. Weil uns leider mein Buddy Dominik kurz nach dem Release von „Antiadore" verlassen musste, haben wir die Zwillinge und langjährigen bekannten Clea und Chris an Bass und Drums in die Band geholt. Zu Napalm werde ich den Anruf bei Max, dem Labelboss, wohl nie wieder vergessen, als ich ihn förmlich überreden musste, uns damals unter Vertrag zu nehmen, und jetzt waren wir 17 sehr erfolgreiche Jahre dort. Wir haben es uns nicht leicht gemacht und uns schweren Herzens getrennt, weil wir über die Jahre doch ein sehr freundschaftliches Verhältnis hatten und immer noch haben. Am Ende hat einfach nur das Gefühl entschieden, etwas "Neues" probieren zu wollen und Oblivion/SPV wollten diesen Weg konsequent mit uns beschreiten, daher freut uns unser bisher bester Chart-Einstieg in die Top 30 um so mehr.

In der Vergangenheit habt ihr mit einigen sehr talentierten und renommierten Produzenten gearbeitet. In wie fern kommen euch diese Erfahrungen heute zugute, wenn ihr selbst noch mehr in der Verantwortung steht?

Sehr. Endlich konnten wir beweisen was wir gelernt haben. Du stehst im Studio immer unter Hochspannung und hältst Augen und vor allem die Ohren offen, um zu lernen. Rob und ich haben uns da sehr gut ergänzt, und auch wenn es einige Diskussionen gab, haben wir es doch ganz gut hinbekommen. Eigentlich kann es aber auch sehr einfach sein, weil das Wichtigste was wir lernen durften ist zuzuhören. Zuzuhören was der Song selbst dir sagt, weil wenn es ein guter Song ist, entscheidet er den Weg von ganz alleine. Der Song kommt vor den Egos, That’s it!

Neben dem Songwriting und der Produktion habt ihr euch diesmal auch noch dazu entschlossen, euer erstes Konzeptalbum überhaupt zu schreiben. Man hätte es sich insgesamt durchaus einfacher machen können, oder?

Haha, ja aber "einfach" war ja noch nie unsere Devise. Das mit dem Konzept war auch nicht wirklich geplant, weil auch etwas "planen" noch nie unser Ding war. Haha! Wir machen einfach... Ich habe eh den Eindruck, dass du in der heutigen Zeit fast schon Bänker sein musst, um im Rock-Zirkus Erfolg zu haben. Alles ist so durchgeplant, alles so einstudiert, alles so etepetete und all dies ist eben nicht wirklich Rock 'n' Roll. Wir sind da anders und eben nicht perfekt, außerdem finde ich, dass "perfekt" keine guten Songs ergibt.
Wegen der Story: Als ich eines Tages während der Vorproduktionsphase dieses wundervolle Bild bei meinem Freund Elton Fernández entdeckt habe, brachte ich es mit ins Studio, und als meine Bandkollegen sofort begeistert davon waren, sprudelte es plötzlich nur so aus uns heraus. Wir spürten, jetzt ist es soweit, und wir verwirklichen gerade einen lang gehegten Traum: unser erstes Konzeptalbum.

Da besagtes Textkonzept Neuland für euch war: Musstet ihr die Songs an das Konzept anpassen oder das Konzept an die Songs? Eure Herangehensweise dürfte sich im Vergleich zu einem Nicht-Konzeptalbum verändert haben, oder war davon nur Rob als Texter betroffen?

Nein, es betraf schon den kompletten Arbeitsprozess. Wir wären auch unglaubwürdig geworden, hätten wir alles beim Alten gelassen, einfach die „Antiadore 2“ geschrieben und ein Konzept nachträglich drüber gestülpt. Als wir dieses Konzept zu Ende gesponnen hatten, wurden alle Melodien, Songstrukturen und die Reihenfolge auf der Platte nach dem Konzept ausgerichtet. Plötzlich hörten wir alles aus einer ganz anderen Perspektive, wir haben Sachen verworfen und uns gewundert, wie perfekt andere Stücke auf unsere Vorstellungen passten. Dies alles war eine komplett neue Erfahrung, und was gibt es Schöneres, als sich nach 23 Jahren selbst neu zu entdecken? Fünf Freunde, die wie in den Anfangstagen bei ein paar Bier zusammen im Studio hocken und an einem Album schrauben. Die Phase, wo wir uns irgendetwas beweisen müssen, haben wir lange hinter uns, und alles was wir wollen, ist diese Einladung auszusprechen zu dieser kurzen Reise in unsere Welt, denn das ist es schließlich, was die Musik mit den Menschen machen sollte.

Ohne alles vorweg zu nehmen: Würdest du uns eine kleine Einführung in das von euch gewählte Konzept gewähren?

Kurz gesagt geht es um das Leben eines in einem Wald aufwachsenden Jungen, der verborgen unter einem Hirschrudel lebt. Es ging aber erst einmal darum, das Konzept miterlebbar zu machen: Würde man es selbst überhaupt aushalten, sich ständig verstecken zu müssen und alleine abgeschnitten von der Außenwelt zu leben? Wie geht man mit dieser grenzenlosen Freiheit um? Lernt man mit der Natur zu verschmelzen, ein Teil von ihr zu werden? Stimmt die These: Ein Junge geht als Kind in die Wildnis hinaus und kehrt als ein Mann zurück? Wir wollten den Wald, der auch unheimlich sein kann, die Gefahren der Natur und diese tiefgreifende Dunkelheit der Thematik mit hunderten Melodien malen. Um all dies zu hören, müsst ihr euch aber die Zeit nehmen - so nebenbei hören, während das Nudelwasser kocht und „Game of Thrones“ läuft, klappt das nicht wirklich.

Wenn wir uns auf die Musik konzentrieren, dann habe ich das Gefühl, dass diesmal innerhalb der Songs wahnsinnig viel passiert. Die Stücke wirken auf mich vielschichtiger als sonst, ihr scheint in viele der Songs mehr rein gepackt zu haben als üblich, was manche Stücke weniger direkt macht. Andererseits bekommen auch manche Tracks viel Raum, um sich zu entfalten, etwa die überaus stimmungsvollen „Black Moon“ und „You, my North“. Manchmal merkt man dabei gar nicht, dass ihr euch trotzdem tatsächlich immer noch im handlichen Format zwischen drei und viereinhalb Minuten bewegt, denn die Songs sind dennoch sehr intensiv. Würdest du dieser Einschätzung zustimmen?

Genau das ist es, was ich gerade versuchte zu erklären. Die Platte braucht einige Durchläufe, aber dann lässt sie dich nicht mehr los, versprochen. Es gab bei mir immer wieder diese besonderen Alben, die beim ersten Anhören zwar cool waren, wo es beim zweiten Durchlauf bereits neue Dinge zu entdecken gab und wenn ich mich weiter damit beschäftigt habe, es von Durchlauf zu Durchlauf noch genialer wurde. Das geht mir z.B. immer bei Katatonia so. Diese Platten liebe ich noch wie am ersten Tag und genau das war unser Ziel: Songs zu schreiben, die die Zeit überdauern und auf denen es immer Neues zu entdecken gibt.

Es geht natürlich auch anders, ich sage nur „No Man’s Land“. Ganz klassischer Lacrimas-Stoff, wenn du mich fragst. Auch ein Zugeständnis an die Zuhörer, um ihnen zwischendurch auch mal einen schnörkellosen Hit zu kredenzen, der den Einstieg in „Hope is here“ durchaus erleichtern kann?

Schön, dass du das ansprichst. Ja, da hatten wir auch kurz diskutiert, ob der überhaupt auf die Scheibe soll. Ganz ehrlich? Ich hatte drei old schoolige Lacrimas-Tracks, die ich sehr gerne auf der Platte gesehen hätte. Aber in einer Bandgemeinschaft, vor allem in einer wie unserer, wo jeder aus einem komplett unterschiedlichen musikalischen Lager kommt, ist es nicht so leicht, sich zu einigen wenn es nicht gerade um ein kaltes Bier, eine Nightlinertour, oder eine schwarze Lederjacke geht, haha! Daher konnte ich nur einen dieser drei Songs durchbekommen, und auch an "No Man’s Land" habe ich noch um drei Uhr morgens kurz vor den finalen Schlagzeugaufnahmen am C-Part rumgeschrieben, um auch wirklich dem Letzten zu beweisen, dass der Song es einfach verdient hat, auf dem Album zu stehen. Wie du siehst, es hat geklappt. Haha!

Besetzungs- und Labelwechsel hin oder her: Seit bald zehn Jahren sind du und Rob so etwas wie der Fels in der Brandung bei Lacrimas und zwischen euch scheint es einfach zu passen. Wie froh bist du eigentlich, in ihm nicht nur einen richtig guten Sänger, sondern auch einen zweiten Pfeiler in eurer durchaus von dem einen oder anderen Wechsel begleiteten Geschichte an deiner Seite zu wissen? So musst du auf jeden Fall nicht die gesamte Last und Verantwortung alleine schultern, selbst wenn du das letzte Originalmitglied bist.

Ja auf jeden Fall. Ich kenne Rob und seine Familie jetzt schon so lange, wir haben ihn damals ja gleich ins kalte Wasser geschmissen, sein zweiter Gig überhaupt war gleich das M'era Luna vor 20.000 Leuten. Er liebte die Band bereits lange vor seinem Einstieg und das verbindet einfach ungemein. Außerdem habe ich zu seinem Dad einen sehr guten Draht und wir sind uns beide einig, dass wenn er jemals aussteigt, er ihn enterben wird. Haha!

Man muss sich das mal vor Augen führen: Du hast Lacrimas Profundere 1993 (!) gegründet, mittlerweile schreiben wir das Jahr 2016 und du machst keine Anstalten in Rock-Rente zu gehen. Ihr habt unter anderem in Russland und Asien getourt und diverse Szenegrößen supportet oder euch mit ihnen die Bühne auf einigen der größten Festivals geteilt. Das Ganze wohl gemerkt als nicht-professionelle Band mit regulären Jobs und dadurch natürlich auch immer mit einigen unfreiwilligen Einschränkungen und Entbehrungen. Was war für dich in all den Jahren das größte Opfer und welchen Wunsch willst du dir mit Lacrimas unbedingt noch erfüllen?

Rente? Das wäre ja langweilig, vor allem wo wir doch jedes Jahr ein neues Abenteuer erleben dürfen. China, Japan, Korea, zum zweiten Mal Russland, Rumänien, Finnland, insgesamt jetzt 29 Länder. Entbehrungen? Klar, leider hat ja alles im Leben immer seine zwei Seiten, also gab es da so einige: Ich war nicht da, als mein erster Sohn das Fahrradfahren lernte, habe in Helsinki am Flughafen erfahren, dass meine Tochter mit Gehirnhautentzündung im Krankenhaus liegt und war einfach bei sehr vielen wichtigen Geschichten, Geburtstagen, Weihnachten usw. wo ich eigentlich gebraucht wurde, nicht zu Hause und habe daher auch oft genug überlegt, das Ganze hier und jetzt abzubrechen. Wenn dann der ein oder andere Auftritt, wo du zu Hause alles liegen und stehen gelassen hast, dann noch nicht mal gut läuft und einige Nasen dich im Publikum ansehen, als wärst du gerade aus dem All gelandet, dann fragt man sich schon, auf was für einem Selbstzerstörungstrip man sich eigentlich gerade befindet. Dann gibt es aber eben auch wieder die Tage, an denen dir deine eigene Musik,oder das Komponieren selbst unendlich viel Kraft verleiht. Auch die Worte der Leute, die unsere Alben kaufen und die Band ebenso lieben wie man selbst, geben ungeheuren Mut. Der größte Wunsch… ganz ehrlich? Das wäre nicht der große Durchbruch, aber vielleicht ein verdienter, bescheidener kleiner, falls es so etwas gibt? "Die Band hatte eben ihren verdienten bescheidenen kleinen Durchbruch“… Ja das hört sich doch irgendwie gut an oder? Haha!

Markus Rutten - www.sounds2move.de


Link: www.lacrimas.com

Bandfotos: Oliver Vogel (www.christianvogel.com)